Ein stilles Erbe aus Stein
2400 Jahre Mensch, Land und Geduld.
Wir sind seit ein paar Tagen auf Hvar – und staunen.
Kaum etwas hat uns so überrascht wie diese Mauern. Sie sind überall. Sie ziehen sich über die Hügel, umranden Wege, durchziehen Olivenhaine und Felder, steigen die Hänge hinauf und verschwinden wieder zwischen Pinien und Macchia.
Tausende davon, vielleicht Hunderttausende. Trockensteinmauern – von Menschenhand geschichtet, Stein auf Stein, ohne Mörtel, ohne Zement.
Zuerst denkt man, das könne kein System haben. Manche Mauern scheinen zu nichts zu führen, enden plötzlich oder umschließen Flächen, auf denen längst nichts mehr wächst. Aber je länger man hinschaut, desto deutlicher wird: Hier ist nichts zufällig.
Diese Landschaft wurde Stück für Stück errungen, über Generationen hinweg, aus purer Notwendigkeit.
Wir wohnen nur ein paar Kilometer von der großen Ebene von Stari Grad entfernt, dem „Starigradsko polje“. Jeden Tag fahren wir daran vorbei.
Von der Straße aus wirkt sie fast unspektakulär: eine weite, flache Fläche, durchzogen von niedrigen Steinmauern, Weinreben, Olivenbäumen und vereinzelten Hütten. Doch hinter dieser Schlichtheit verbirgt sich eine Geschichte, die älter ist als fast alles, was wir in Europa kennen.
Vor rund 2400 Jahren legten griechische Siedler aus Pharos – dem heutigen Stari Grad – diese Ebene in geometrische Parzellen. Sie kamen vom Festland, suchten fruchtbares Land und fanden hier, zwischen Karst und Meer, eine der seltenen Senken, in denen Ackerbau möglich war.
Jede Familie erhielt ein Stück Land, begrenzt durch Mauern aus dem Stein, den man zuvor mühselig aus dem Boden geholt hatte. Diese Mauern waren Besitzgrenzen, Schutzwälle gegen Wind und Erosion, Lebenslinien in einer kargen Welt.
Das Erstaunliche: Diese Struktur ist bis heute erhalten. Man erkennt sie sogar auf Satellitenbildern – die alten Parzellen mit ihren Mauern, wie mit dem Lineal gezogen.
Die UNESCO hat das Starigradsko polje 2008 zum Weltkulturerbe erklärt, nicht wegen prunkvoller Bauten, sondern weil hier eine Idee von Ordnung und Überleben 24 Jahrhunderte überdauert hat.
Wenn man durch die Ebene fährt, spürt man davon etwas. Zwischen den Mauern wächst Wein, Lavendel, Feigen. Manche Felder sind gepflegt, andere längst aufgegeben. Dazwischen stehen winzige Steinhütten – „trim“ nennen die Einheimischen sie –, Zufluchtsorte der Bauern, wenn der Regen kam oder die Sonne zu heiß wurde.
Es ist eine Landschaft, die still erzählt, wie hart das Leben hier einmal war und wie sorgfältig man mit dem umging, was man hatte.
Doch nicht nur in der Ebene, auch in den Hügeln ringsum ziehen sich Mauern wie ein Netz über das Land. Sie markieren ehemalige Weideflächen, terrassieren Hänge, halten Erde fest, die sonst längst ins Meer gespült worden wäre.
Ihre Linien laufen quer zum Gelände, oft bis an die Küste. Aus der Ferne betrachtet sieht Hvar dadurch aus wie eine Insel, die von Menschen in feine Streifen geschnitten wurde.
Heute, in Zeiten des Verfalls und der Wiederkehr, stehen viele dieser Mauern ohne Zweck. Die Felder sind verlassen, die Reben verwildert, und nur noch wenige Familien bewirtschaften ihr Land.
Aber die Mauern bleiben – unbeirrbar, widerständig, als stilles Zeugnis einer Kultur, die Stein für Stein den eigenen Lebensraum erschaffen hat.
Manchmal, wenn wir an der Ebene vorbeifahren, frage ich mich, wie lange es gedauert haben muss, bis eine dieser Mauern stand. Wie viele Hände sie geschichtet haben, wie viele Sommer und Winter vergangen sind, bis eine Familie ihr Stück Land wirklich „fertig“ hatte.
Vielleicht ist keine dieser Mauern je fertig gewesen. Vielleicht war das Bauen selbst der Sinn: die tägliche Arbeit gegen das Chaos der Natur, der Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen – und damit ein wenig Frieden.
Es gibt eine eigentümliche Schönheit in dieser Kargheit. Die Steine sind warm, wenn die Sonne darauf liegt, und silbergrau, wenn der Abend kommt. Dazwischen schimmern Olivenblätter, Feigenbäume werfen Schatten, Zikaden surren.
Diese Mauern sind keine Ruinen. Sie sind Erinnerung in Form von Stein – an eine Zeit, in der Menschen hier nicht Urlaub machten, sondern blieben, weil sie keine Wahl hatten.
Vielleicht gefällt mir genau das so sehr: dass etwas so Unscheinbares so viel erzählen kann. Dass hier Menschen etwas geschaffen haben, das keinen großen Namen trägt, kein Denkmal ist, sondern einfach da.
Unverrückbar, funktional, zweckfrei und doch voller Bedeutung.
Wenn wir morgens an der Ebene entlangfahren, denke ich oft, dass in diesen Mauern eine Art Lebensform steckt. Man nimmt, was man hat, ordnet es, fügt es zusammen, ohne zu wissen, wann es genug ist. Es wird nie fertig.
Vielleicht ist das das eigentliche Erbe dieser Landschaft: nicht das Mauerwerk selbst, sondern die Haltung, die darin steckt – Geduld, Ausdauer, ein stilles Vertrauen darauf, dass sich etwas fügt, wenn man lange genug dranbleibt.




