Straßenpoker
Es ist kein Chaos. Nur ein anderes Spiel.
Eine schmale Kreuzung am Rand eines Dorfes. Links parkt ein Pickup halb auf der Straße. Genau dort, wo ich eigentlich hin möchte.
Rechts rollt ein Roller heran. Verlangsamt kurz und hält mit leicht schräger Front. Keine Markierung, kein Schild, kein Hinweis darauf, wer zuerst fahren sollte.
Das Licht ist grell, der Schatten hart, die Luft steht warm und riecht nach trockenem Staub. Aus der Ferne dringt das gedämpfte Bellen eines Hundes herüber. Für den Moment scheint niemand so recht an der Reihe zu sein.
Ich bremse leicht, mehr aus Unsicherheit als aus Notwendigkeit.
Der Fahrer des Rollers hebt kurz den Kopf. Ein kleiner, ruhiger Blick, der kaum länger als einen Augenblick dauert. Hinter ihm brummt der Motor matt im Leerlauf, als würde er ebenfalls warten. Dann lässt er die Schultern ein wenig sinken, ein kaum merkliches Einverständnis.
Plötzlich ist klar: Er wartet. Ich kann fahren.
In den ersten Tagen wirkte das auf mich wie ein einziges Rätsel. Ich suchte nach vertrauten Hinweisen: Hauptstraße, Nebenstraße, Vorfahrtsschilder, Markierungen.
Nichts.
Nichts davon schien hier eine Rolle zu spielen. An vielen Kreuzungen gab es keinerlei Orientierung. Ich hielt an, blickte nach links und rechts, versuchte ein Muster zu erkennen - vergeblich.
Ich erwartete Ordnung in der Form, wie ich sie kannte: sichtbar, eindeutig, verlässlich.
Was ich fand: Kein System. Kein erkennbarer Rahmen. Nur Bewegungen, Blicke, kurze Pausen. Und ich stand mitten drin. Überzeugt davon, dass ich etwas Offensichtliches übersehen hatte.
Erst später begriff ich, dass hier nichts fehlt. Es war schlicht ein anderes Spiel.
In Deutschland gleicht der Verkehr einem Brettspiel: Jeder Zug ist definiert, jede Option sichtbar. Wie Schach oder Dame.
Hier dagegen läuft vieles wie in einer Partie Poker ab. Nicht die Regeln bestimmen das Geschehen, sondern das Lesen der anderen. Die feinen Signale. Das Gespür für den richtigen Moment.
Man bewegt sich nicht nach Vorgaben, sondern folgt den Blicken und den kleinen Gesten. Die Ordnung entsteht im Zusammenspiel.
Klar, dass es keine Schilder gibt! Die würden nur stören!
Mit der Zeit wurde es einfacher. Nicht, weil ich die Regeln gefunden hätte. Sondern weil ich verstand, dass das hier anders läuft: Weniger Vorschriften. Mehr Wahrnehmung. Weniger Plan. Mehr Reaktionen auf die Mitspieler.
Ein paar Tage später wieder so eine schmale Gasse. Eingegrenzt von alten Mauern, deren Steine nach Sonne und Meer riechen und die so nah stehen, dass man unwillkürlich langsamer wird und sich fragt, ob man versehentlich in einen Hof eingefahren ist.
Uns kommt jemand entgegen. Auch ein Pickup - mit Säcken voller Oliven und diesen merkwürdigen Erntestäben.
In Deutschland wäre die Situation geregelt. Da gäbe es Schilder.
Hier nicht. Niemand hupt. Niemand drängt. Wir halten kurz inne.
Wer hat mehr Spielraum?
Wer wirkt bereit zurückzusetzen?
Wer hat vielleicht gerade den besseren Winkel?
Es dauert keine zwei Sekunden. Dann setzt einer ein Stück zurück, der andere rollt vor. Keine Dramatik. Kein Ärger. Nur ein stilles Aushandeln. Als hätten beide eine Runde gespielt und im selben Moment erkannt, wie der Stich ausgeht.
Chania an einem Samstagvormittag. Markttag. Die Straßen wirken, als hätten sie über Nacht beschlossen, dichter zu werden.
Der Duft von reifen Tomaten und gegrilltem Fleisch liegt schwer über dem Asphalt. Stimmen mischen sich mit dem Rufen der Händler, und Autos drängen sich aneinander wie Menschen, die vor einem plötzlichen Gewitter Schutz unter dem einzigen Vordach suchen.
Wir sind wie alle anderen unterwegs. Suchend, tastend, halb hoffend, dass irgendwo doch noch ein Platz frei wird. Doch je weiter wir fahren, desto klarer wird: Heute findet niemand mehr was.
Irgendwann geht es nicht mehr. Ich bleibe stehen. Mehr geht wirklich nicht. Nicht vor. Nicht zurück.
Hinter uns stauen sich die Autos. Und mit jedem neuen Wagen wächst das unangenehme Gefühl, vielen Menschen im Weg zu sein.
Dann kam sie.
Eine Frau stieg aus einem der Autos hinter uns. Mitte fünfzig vielleicht. Das Haar zu einem festen Knoten gebunden. Die Schritte ruhig und ohne jede Hast. Die Sonne lag auf ihrem Gesicht, ohne dass sie die Augen zusammenkneifen musste.
Sie wirkte nicht überrascht von der Enge. Nicht eingeschüchtert vom Stau. Eher wie jemand, der weiß, dass es für solche Situationen immer einen Weg gibt.
Sie trat ein paar Meter vor, sah sich um, musterte die Stoßstangen, die Winkel, den verfügbaren Raum. Dann hob sie die Hand. Keine große Geste, eher ein sachliches Angebot: Weiter!
Wir rollen an.
Sie steht seitlich, sieht beide Seiten, bewegt die Hand kaum sichtbar: Ein wenig nach links! Ein wenig nach rechts! Jetzt vorwärts! Zentimeter für Zentimeter.
Es wirkt nicht wie Anweisung, eher wie etwas, das sich gerade anbietet: Du kannst hier durch. Da nicht. Jetzt hier lang!
An einer Stelle bin ich mir sicher, dass wir an einer Stoßstange hängen bleiben. Ich halte den Atem an. Erneut das kleine „Weiter!“ Also weiter.
Ein paar Sekunden später sind wir durch. Sie nickt kurz und geht zurück zu ihrem Auto, als hätte sie eben etwas völlig Unbedeutendes getan.
Für uns war es eine Lektion: Auch das ist eine Rolle im Spiel. Nicht dominieren, nicht fordern, sondern führen, wenn man gerade die besseren Karten hat.
Eine andere Szene. Viel kleiner und beinahe unscheinbar. Ich stehe in Vriesses vor einem Kafenion, bereit auszuparken. Vor mir dichter Verkehr, hinter mir eine Kreuzung, auf der drei, vielleicht vier Fahrzeuge stehen. Rückwärts wäre möglich - theoretisch.
Ich lege den Rückwärtsgang ein und rolle langsam an. Doch direkt hinter mir, halb auf der Kreuzung, sitzt ein junger Mann auf seinem Moped. Ohne Helm. Das Telefon am Ohr, tief versunken in sein Gespräch.
Ich warte. Eine Minute. Zwei. Nichts passiert. Niemand regt sich auf. Kein Hupen. Kein Kopfschütteln.
Ich gebe nach und lasse den Rückwärtsversuch sein. Vorne öffnet sich ein schmaler Spalt, also nehme ich den.
Als wir vorbeifahren, sitzt er noch immer da. Telefon am Ohr. Versunken ins Gespräch. Unbeeindruckt davon, dass er die Kreuzung blockiert.
In Deutschland wäre das ein Verstoß. Eine Störung. Ein Risiko.
Hier wirkt es eher wie eine kurze Unterbrechung der laufenden Partie. Einer ist am Zug, hält kurz inne, nimmt den Hörer auf, klärt etwas. Und alle anderen warten, bis er auflegt und es weiter geht.
Auf dem Weg zur Balos-Lagune endet die gut ausgebaute Straße irgendwann so abrupt, dass es wirkt, als sei man aus Versehen in eine Baustelle eingebogen.
Der Asphalt bricht weg. Es folgt eine grobe Schotterpiste mit Furchen, die tiefer sind als alles, was man einem Kleinwagen zumuten würde. Kein Schild warnt davor.
Wir halten kurz an. Sind wir hier richtig?
Ein paar Sekunden später kommt uns ein Fiat Panda entgegen. Dann ein Roller. Dann drei Ziegen. Also weiter!
Auch das folgt einer eigenen Logik. Man tastet sich vor. Hört das dumpfe Poltern der Reifen in den Furchen. Sieht, wie weit man kommt, und entscheidet von Moment zu Moment.
Kein starrer Plan. Eher ein stilles Mitspielen mit dem Gelände, den Fahrzeugen, den anderen Fahrern. Jeder reagiert auf das, was die Situation hergibt - wie in einer Runde, in der man seine Karten nicht kennt und sich alles erst nach und nach klärt.
Wenn man lange genug auf Kreta fährt, beginnt man zu ahnen, dass explizite Regeln - materialisiert in Schildern und Markierungen - nicht immer Lösungen schaffen, sondern oft einfach nur Verständigung ersetzen.
Ein Schild sagt dir, was du tun sollst. Ein Blick sagt dir, wie du dich verhalten kannst. Je mehr formal geregelt ist, desto weniger müssen wir auf die Umgebung, auf die anderen achten. Und irgendwann verlernen wir es …
Weniger Regeln bedeutet nicht Chaos. Es bedeutet einfach, dass man sich mehr abstimmen und mehr auf andere achten muss.
Man mag vielleicht einwenden, dass Verständigung weniger effektiv ist, aber das stimmt so nicht, weil Regeln den Kontext ausblenden müssen und uns damit unnötig einschränken.
Ich habe oft das Gefühl, dass es hier weniger Regeln gibt. Das mag vielleicht mit der Geschichte dieses Ortes zu tun haben.
Mit Inseln, auf denen die Menschen jahrhundertelang mit wechselnden Herren und schwachen Institutionen lebten. Mit Gemeinschaften, die sich aufeinander verlassen mussten, lange bevor Vorschriften und Regeln ihren Weg auf eine Kreuzung fanden.
Hier wird anders gespielt. Es fühlt sich oft wie Poker an. Und der Verkehr ist nur eine Facette davon. Es ist ein System, das auf Aushandlung beruht. Ein Spiel, das von denen getragen wird, die es spielen.
Und wie jedes funktionierende Spiel hat es Regeln - nur eben keine gedruckten. Keine fixierten. Keine unumstößlichen.
Genau das gehört zum Reisen: Dass man ein neues Spiel lernt.
Erst steht man ratlos herum und wartet auf eine Erklärung, die nie kommt. Dann beginnt man zu beobachten. Nach und nach merkt man, dass alles funktioniert - nur eben anders als gewohnt.
Und irgendwann spielt man mit.
Wir werden Kreta verlassen. Vielleicht genau dann, wenn wir das Spiel hier endlich beherrschen. Wenn die Zeichen vertraut sind und die Abläufe still ineinandergreifen.
Am nächsten Ort beginnt dann alles wieder von vorn: andere Straßen, neue Gesten, eine ungewohnte Art, sich zu bewegen. Ein neues Spiel.
Natürlich ist das anstrengend. Es ist aber auch lehrreich, immer wieder Anfänger zu sein. Es erinnert uns daran, dass es nicht nur eine richtige Ordnung gibt. Nicht nur ein korrektes Leben.
Sondern viele.



Ja, hier in Old Germany läuft das alles leider ein klein wenig anders, vgl.:
https://www.youtube.com/shorts/nO0n7YuHXg0?app=desktop